Das Handling der Gefühle
- annekathrin kohout
- 13. Aug. 2016
- 9 Min. Lesezeit
In unserem ersten Gespräch diskutieren Susann Kohout und ich über die Rolle von Massenmedien und Internet-Foren, Strategien des Onlinejournalismus und das Handling mit Emotionen im Netz. Mehr Infos zur Gesprächsreihe gibt es hier.
AK: Du beschäftigst dich mit Emotionalisierung im Social Web. Positive und negative Emotionen haben viel mit Anerkennung und Ablehnung zu tun. Wann man aber etwas anerkennt oder ablehnt, hängt immer davon an, woran man glaubt. Und auf der anderen Seite: wie glaubwürdig etwas erzählt wurde. Ein kleines Beispiel:
In den 1950er bis 1980er Jahren befand sich in vielen britischen Haushalten das Bild „The Crying Boy“ von Bruno Amadio. Es war eines der bekanntesten Bilder dieser Zeit. Am 4. September 1984 setzte die Boulevardzeitung „The Sun“ dieser Erfolgsgeschichte ein jähes Ende: Sie berichtete über einen Feuerwehrmann, der sich wunderte, dass er aus einem sonst völlig abgebrannten Haus das Bild des weinenden Jungen bergen konnte - welches unbeschädigt war. In den folgenden Monaten berichtete man über sämtliche Hausbrände: immer befand sich darin dieses Bild. In der Redaktion von „The Sun“ liefen unterdessen die Telefone heiß: „besorgte Bürger“ - ich sage das mal so - waren sich unschlüssig, ob ein Fluch auf ihrem Haus liegen würde, wenn sie dieses Bild besäßen - und wie man ihn loswerden kann. Daraufhin beschloss „The Sun“, Leser sollen ihre Bilder einschicken und man würde diese dann öffentlich verbrennen. Schließlich geschah das auch so.
Aus heutiger Sicht hört sich die Geschichte absurd an. Aber gerade deshalb ist sie auch modellhaft. Dafür, wie Sensationsjournalismus funktioniert und wie schnell und leicht sich Mythen bilden können. Aber auch dafür, wie Meinungsmedien Zusammenhänge generieren, um Geschichten länger haltbar zu machen, sprich anhand von ähnlichen Ereignissen immer wieder auf die „Vorgänger“ verweisen zu können. Die Geschichte hat viele interessante Aspekte und Dimensionen, aber was mich interessiert ist, wie schnell und einfach man dazu gebracht wird, an etwas zu glauben.
Ich habe den Eindruck, in der Geschichte wird versucht, Muster zu erkennen, wo eigentlich keine sind. Das lässt sich ja auch ganz gut im Sensationsjournalismus wiederfinden: Jeder kriminelle Akt einer Person arabischer Herkunft wird direkt mit dem IS in Verbindung gebracht.
AK: Ja. Und man wünscht sich in gewisser Weise auch, dass alles zusammenhängt. Die Frage ist: von wem geht es aus. Anders als bei dem „Crying Boy“, wo die Mustererkennung von einem bestimmten Medium - „The Sun“ - intendiert war, versuchen gegenwärtige Massenmedien vielmehr eine solche zu verhindern. Etwa bei den Anschlägen in Würzburg- München-Ansbach. Dort haben sich die führenden Medien sehr bemüht, die Mustererkennung ihrer Leser - die unbedingt einen Zusammenhang in den Anschlägen und Amokläufen finden wollten - zu konterkarieren.
SK: Die interessante Frage ist eigentlich, inwiefern sich Mythen gerade online häufiger und schneller verbreiten als in analogen Zeiten, einfach da jedermann Informationen ohne Umstände über den Bekanntenkreis hinaus erzählen bzw. veröffentlichen kann. Menschen, deren Meinungen das persönliche Umfeld normalerweise nicht verlassen hätten, geraten jetzt durch das Netz in die Öffentlichkeit. Aber wenn es um Mythen geht, trifft das selten die breite Öffentlichkeit, sondern immer nur Teilöffentlichkeiten - außer sie gehen von den Massenmedien aus, wie im Beispiel des „Crying Boy“. Obwohl jeder die Möglichkeit hat, irgendetwas zu publizieren, ist es immer noch so, dass das, was die Massenmedien publizieren, auch das ist, worauf sich die Menschen beziehen und wo sie ihre Informationen herholen. Man kann etwa online kaum mit einem Blog-Beitrag argumentieren, sondern muss auf allgemein anerkannte Medien verweisen. Da haben Massenmedien noch immer die Funktion, Sicherheit zu geben, was die Qualität der Inhalte anbelangt.
AK: Ich habe aber auch die Beobachtung gemacht, dass es in bestimmten Milieus keine Rolle spielt, woher Inhalte kommen. Weil kein Gefühl dafür da ist, wann eine Quelle glaubwürdig und sachlich ist und wann derartige Ansprüche fehlen. Nur deshalb wird doch in manch einem Umfeld geglaubt, was eigentlich unglaubwürdig ist. Andererseits sucht man auch nach den Informationen, die einem entsprechen.
SK: Genau, manche lesen nur, was sie lesen wollen. Wissen nur, was sie wissen wollen. Glauben nur daran, woran sie glauben wollen. Wenn sie dann doch in Kontakt mit anderen Meinungen kommen, nehmen sie die Berichterstattung entsprechend des sogenannten Hostile-Media-Effektes als unfair wahr.
Ich würde auch sagen, dass es eine Frage der Medienkompetenz ist, wie man Informationen sucht und bewertet. Unterschiede in der Bewertung gibt es jedoch nicht nur im Netz, sondern auch schon innerhalb der traditionellen Massenmedien. Man denke etwa an die BILD.
Was allerdings die Medienkompetenz im Internet betrifft, so trifft die Aussage von Angela Merkel zu, das Internet sei Neuland, auch wenn sich viele darüber lustig gemacht haben. Die Menschen lernen erst noch, wie man damit umgeht. Es gab in den 1990ern schon Internet-Foren, deren Nutzer Regeln aufgestellt haben, sogenannte Netiquetten, wie man sich verhalten soll, was man posten darf etc. Dadurch, dass das Internet leichter zugänglich geworden ist, beteiligt sich heute aber ein viel breites Spektrum an Menschen daran. Früher war das Internet ja eher ein Elite-Medium. Also neue Menschen, die den Umgang lernen. Aber auch neue Angebote im Internet, wie Social Media, mit denen der Umgang gelernt werden muss. Auch dadurch, dass alles so schnell geworden ist und sich immer noch verändert, muss Kompetenz sich anpassen. Obwohl früher alles anonym war - man hatte Nicknames - und man auch eher mal etwas Unangemessenes veröffentlichen konnte, hat man sich teilweise anständiger verhalten.
AK: Das ist wirklich paradox. Ich meine, mich auch daran zu erinnern, dass es als gefährlich galt, in Internet-Foren mit Fremden zu chatten. Man dachte eigentlich, dass es dort nur Kriminelle geben könne. Doch noch etwas anderes ist paradox in Bezug auf die Anonymität. Heute, wo man für das Thema Daten so sensibilisiert ist wie nie zuvor, haben wir die Nicknames hinter uns gelassen und geben unseren bürgerlichen Namen überall ungefragt ein. Unter Klarnamen wird sogar gemobbt und gehetzt.
SK: Ja, es gab eine unglaubliche Entwicklung hinsichtlich des Umgangs im Netz. Und manchmal frage ich mich auch - gerade wenn unter den Klarnamen argumentiert wird -, wie und ob Kommentare zensiert und reguliert werden sollen. Wenn zum Beispiel die großen Tageszeitungen rassistische oder verschwörungstheoretische Beiträge löschen, also zensieren, kann man schon fragen, ob es nicht andere Varianten gibt, damit umzugehen. Aber vielleicht sollte man auch einfach abwarten, bis es sich von selbst reguliert.
AK: Weil Du den Handlungsspielraum der Medien ansprichst: Facebook will mit einem neuen Algorithmus die Anzahl von Meldungen mit Clickbait-Schlagzeilen in der Benutzeransicht des sozialen Netzwerkes reduzieren. Könnte das nicht generell eine interessante Lösung sein, um emotionale Reaktionen zu reduzieren? Denn meistens rezipiert man zum Beispiel auf Facebook ja ohnehin nur Schlagzeilen und Teaser.
SK: Ja, deswegen sind die Medien ja auch angehalten, das Clickbaiting zu produzieren.
AK: Mit der Schlagzeile „27-jähriger Flüchtling zündete Sprengsatz“ hat man die Zusammenfassung der Ereignisse in Ansbach in der Süddeutschen Zeitung auf Facebook betitelt. Das provoziert rassistische Hetze. Dennoch spielt die SZ im Kommentarbereich den Anstandswauwau: „Kein Raum für Hetze.“ Oft vermisse ich eine professionelle Moderation in den Kommentarfeldern. Und so manches Mal wird sogar provokativ auf die Leser-Meinungen reagiert.


SK: Die Zeitungen und Zeitschriften müssen den „Anstandswauwau“ spielen, denn tun sie es nicht, geraten sie als Unterstützer in der Verbreitung hetzerischer Kommentare ins Fegefeuer der Öffentlichkeit. Sobald etwa die Süddeutsche Zeitung entsprechende Kommentare nicht löschen würde, würfe man ihr vor, Platz für rassistische Hetze zu schaffen. Vor allem mit ihrer derart großen Öffentlichkeitswirksamkeit. Das heißt auch: sie müssen das löschen.
AK: Anderes Beispiel: Instagram plant ein neues Feature, das gerade von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens getestet wird - etwa Kyle Jenner. Das Feature ermöglicht Usern, die Kommentarfunktion einzuschränken, indem selbst bestimmte Wörter wie „fuck“ oder „bitch“ blockiert werden können.
SK: Die Idee ist alt: In vielen Online-Games ist das Gang und Gebe - zum Beispiel, dass man nicht „Fuck“ schreiben darf. Dadurch wurden die Nutzer sogar kreativ, entwickelten eine alternative Sprache, setzten Zeichen zwischen die Buchstaben: F*ck. Auch Leetspeak wird hier intensiv genutzt. Ich finde, die Idee ist trotzdem wirksam und ein guter Ansatz.
AK: Das würde ich auch sagen - weil die Kommunikation so zivilisierter ist.
Es gibt also viele Versuche, die Dynamik der negativen Kommentare zu regulieren. Aber es bleibt die Frage nach der Wirksamkeit und ob es sich nicht - wie Du sagtest - auch von selbst regulieren kann und wird. Im Journalismus gibt es Klatsch, der bewusst emotionalisiert. Auf Facebook scheint Emotionalität zunächst einmal gerechtfertigt zu sein, denn man ist ja unter Freunden. Da ist es doch normal, dass es dort emotional zugeht, oder?
SK: Ja, absolut, so schätze ich das auch ein. Der Anspruch, man muss rational sein - gerade wenn es um Politik geht -, ist absurd. Ich kann das zwar verstehen, weil man schließlich mit Gefühlen keine rationalen Entscheidungen treffen kann, die langfristig für alle sinnvoll sind. Deshalb ist Angela Merkel als rationale Figur auch wichtig. Aber gerade im Internet und im Social Web geht alles sehr schnell. Da reagiert man als Nutzer spontan, affektiv - gerade auch auf das, was sich politisch ereignet. Die Massenmedien tun das aber genauso - und emotionalisieren dadurch natürlich auch.
AK: Ja, zwar bedurfte es immer schon guter Schlagzeiten, um gut zu verkaufen. Aber indem sich die Massenmedien in diesen persönlichen Bereich begeben, passen sie sich auch der dort vorherrschenden Sprachkonventionen an. Und dabei handelt es sich um eine Social-Media-Sprache. Die jung, hip und oft auch emotionaler ist.
Inwiefern wirkt sich die Emotionalisierung durch die öffentlichen Medien auf das Klima der Kommentarseite aus?
SK: Dazu muss ich sagen, dass man versuchen muss, Emotionalisierung nicht nur negativ zu sehen. Denn sie führt ja auch erstmal dazu, dass man sich für die jeweilige Nachricht interessiert. Gerade wenn etwas sehr trocken geschrieben ist, haben die Menschen wenig Lust, sich damit zu beschäftigen. Die Folge ist Politikverdrossenheit, was sich in Desinteresse oder sogar Ablehnung von Politik äußert und demokratiegefährdend werden kann. Wenn sie sich aber persönlich angesprochen fühlen, beschäftigen sie sich eben schon mit dem Thema. Deswegen muss man immer beide Seiten sehen.
AK: Oft sind es negative Schlagzeilen, die emotionalisieren. Die ZEIT versucht gerade, mit positiven Push-Nachrichten auch positive Emotionen hervorzurufen. Etwa: „Eil - Welt erneut besser geworden: Verbrauch an Plastiktüten sinkt rapide“. Die Motivation liegt vor allem auch darin, zu zeigen, was man sonst nicht wahrnimmt: nämlich dass sich viel verbessert, wir zivilisatorisch unheimlich fortgeschritten sind, es uns besser geht als je zuvor. Positive Emotionen galten bisher immer als schwer vermittelbar - ist auch der Versuch der ZEIT zu künstlich?
SK: Aus meiner Perspektive ist das zu einfach gedacht. Natürlich freut man sich über die Nachricht, dass nicht mehr so viel Plastiktüten verbraucht werden. Aber die Freude ist nicht sehr intensiv. Nicht so intensiv wie etwa die Aussage, dass in ein 600-Menschen-Dorf 700 Flüchtlinge untergebracht werden sollen. Die daraus resultierenden Aggressionen sind unheimlich stark. Man kann aber nur selten, egal um welche positiven Nachrichten es sich handelt, genauso intensive Gefühle erzeugen wie bei Hass oder Aggression.
AK: Zumindest nicht im Bereich der Nachrichten. Aber es gibt Orte sehr starker positiver Emotionen. Zum Beispiel im Bereich der Unterhaltungs- und Popkultur. Es gibt viele Videos, die sogar lediglich dazu da sind, positive Emotionen zu schüren, man denke an millionenfach angeklickte Videoausschnitte von Casting-Shows, die den Moment festhalten, wenn jemand auf die Bühne tritt, von dem man optisch nicht erwarten würde, dass er talentiert ist, und dann kommt die große Überraschung und er haut alle um.
In gewisser Weise dienen positive Beiträge aus dem Bereich der Unterhaltungskultur ja auch der Kompensation besonders erschütternder Ereignisse.
SK: Ja, das stimmt, aber so reflektiert ist das natürlich gar nicht.
AK: Man reflektiert das als Technik immer mehr, positive Beiträge werden auch programmatisch verwendet. Als zum Beispiel während der Anschläge in Brüssel unter dem Hashtag #brusselslockdown Katzenbilder gepostet wurden, um zu signalisieren: das ist untere Kultur - niedlich, positiv und unterhaltsam. Das ist eine Technik, die man ernst nehmen kann, um sich gegen negative Emotionen zu rüsten. Auch die dahinterliegende Motivation, sich nicht von negativen Gefühlen vereinnahmen zu lassen, ist in vielen Postings durchaus spürbar. Ich lese in meinem Facebook-Umfeld zum Beispiel oft Beiträge wie „Nach den Ereignissen der letzten Woche freue ich mich, diese Nachricht/Video/Bild zu lesen/sehen.“ Andere sehr positive Gefühle werden ja auch vom Fußball ausgelöst.
SK: So hält man die Menschen zusammen und unter Kontrolle, damit sie sich nicht in negative Emotionen hineinsteigern.
Das Problem liegt aber vor allem bei der Geschwindigkeit, die immer mehr steigt, sodass weder Journalisten noch Leser und Kommentatoren damit umgehen können. Es ist beinahe unmöglich, so schnell so viele Informationen zu verarbeiten, einzuschätzen, in Zusammenhänge zu bringen. Außerdem gibt es keinen Lektüre-Konsens mehr, über den man spricht. Weil es so viel Lektüre gibt. Die Folge ist gesellschaftliche Fragmentierung.
AK: Es gibt schon noch fundierte Meinungen, gute und intellektuell sehr anspruchsvolle Texte und Diskussionen. Aber sie finden nicht mehr an den gleichen Orten statt, es ist schwierig, sie aufzuspüren. Man hat nicht mehr den gleichen Zugriff darauf. Bisher gab es immer herrschende Medien, die man als Mensch mit einer bestimmten Gesinnung las und die auch sachliche Qualität garantiert haben. Auf dem Facebook-Dashboard wird es immer schwerer, gute von schlechten Links zu unterscheiden. Es gibt keine neuen Orte, an denen Qualität garantiert wird.
SK: Eine Informationsflut, für die man nicht gewappnet ist. Interessant ist ja auch, dass die Kritik an der Fragmentierung eigentlich auf das Fernsehen zurückgeht. Als plötzlich mehr als nur ein Sender zur Verfügung stand. Wo es nur einen Sender gab, war klar, worüber man sich unterhält. Plötzlich gab es viele Sender, und man konnte gar nicht mehr über das Gleiche sprechen, weil jeder einen anderen Sender anschaute – so besagt es zumindest die Theorie. In den gemeinsamen Themen, über die sich sprechen lässt, liegt auch die Chance, eine stabile Gesellschaft zu sein. Aber davon rückt man immer mehr ab, wenn man nicht mehr die gleichen Gesprächshintergründe hat. Wenn jeder die Welt aus seiner Filterblase anders wahrnimmt, trifft man in etwa so aufeinander, wie es fremde Kulturen tun.
AK: Tatsächlich hat die Polarisierung - besonders vor dem Hintergrund der Flüchtlingsdebatte - bereits dazu geführt, dass man sich innerhalb der eigenen Kultur als fremd gegenübertritt. Die Meinungen und Emotionen des Gegenübers werden immer unverständlicher, je mehr sie sich in ihren eigenen Filterblasen isolieren und damit festigen. Das zeigt sich vor allem in den Kommentarfeldern, zum Beispiel unter einschlägigen Berichterstattungen auf Facebook. In unserem nächsten Gespräch diskutieren wir über diesen Bereich. Wie verhalten sich die mittlerweile verfeindeten Pole - denen man mit der einfachen Klassifizierung „links“ und „rechts“ nicht im geringsten gerecht wird? Wie verlaufen die Diskussionen und gibt es Kommunikationsmuster? Und vor allem: Wie kommen die sich überschlagenden Emotionen zustande?

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