Wie die bürgerliche Identität ins Social Web kam? Durch Selfies.
- annekathrin kohout
- 4. Jan. 2017
- 4 Min. Lesezeit
Ganz im Sinne der Metapher, ins Internet würde man abtauchen, stand der Computer meiner Eltern, als ich noch ein Kind war, im Keller. Es gab mehr oder weniger festgelegte Zeiten, in denen meine Schwester und ich das Internet nutzen konnten, weil es teuer war oder das Telefon blockierte, und wenn ich mich daran zurück erinnere haben diese Zeiten etwas Anrüchiges. Denn ich nutzte die Gelegenheit der Keller-Internet-Stunden meistens, um mich in Chatrooms herumzutreiben und das natürlich anonym. Meine ersten Chat-Erfahrungen machte ich auf uboot.com. Uboot.com ging 1999 online und war in neongrün und pechschwarz gestaltet. Es machte einen dunklen Eindruck, das passte nicht nur zum Internet, das noch als dunkel und gefährlich galt – sondern auch zum Keller, in dem ich meist ganz allein saß. Ja, mit dem Uboot, so stellte ich es mir zumindest vor, und sicher sollte man sich das auch so vorstellen, tauchte man in die Tiefen des Internets der 1990er Jahre ein. Aber eigentlich gab es bei den Uboot-Chat-Rooms bereits vieles, das man von heutigen Räumen der sozialen Netzwerke kennt. Es gab Profilseiten, die sich „Nickpages“ nannten. Nickpages, weil es die Seite war, die man unter dem sogenannten „Nickname“ auffinden konnte. Denn anders, als man es heute etwa von Facebook kennt, gab man in Chat-Rooms nicht, eigentlich niemals, seinen bürgerlichen Namen ein, sondern fiktive Namen. „Bienchen85“, „SuperStern89“ oder „DeineMaus333“. Die Aufgabe solcher Fantasienamen bestand darin, die Fiktionalität des Charakters im Netz anzuzeigen und damit auch einen Unterschied zur bürgerlichen Identität zu markieren. Mittels solcher Namen ließ sich sowohl eine Verbindung beider Identitäten durch Anspielungen oder angedeutete Vorlieben - etwa für Katzen oder Sterne oder das Geburtsjahr - herstellen, als auch eine völlig unabhängige, parallele Identität erzeugen. Die Nicknames waren einerseits eine Vorsichtsmaßnahme, da die Angst vor der Preisgabe der Daten für viele noch neu war. Aber auch einer psychologischen Konstellation geschuldet, die Sherry Turkle in ihrem frühen Buch über Identität der Nutzer im Internet wie folgt beschreibt: „In the worst of cases, they are locked into roles, afraid of the new, and protective of the familiar.“ Heute ist es nahezu undenkbar, seinen bürgerlichen Namen vor dem Netz unter Verschluss zu halten – trotz der immer dringlicher werdenden Diskussionen um Big Data –, weil es unmöglich geworden ist. Damit ging aber auch etwas verloren, nämlich die Wahrnehmung des Internets als eine parallele Welt, in der man nicht den sonstigen Konventionen entsprechen musste. Aber wie kam es dazu? Eine frühe Verknüpfung der analogen Welt und der digitalen des Internets erfolgte über Bilder. Uboot.com gründete 2001 zu Beispiel seine erste Foto-Community, die sich „cheeez!“ nannte und zugleich ein Fotoservice für Kleinbildfilme war. Die Nutzer konnten ihre Filme zur Firma von uboot.com schicken, dort wurde sie digitalisiert und auf der jeweiligen Nickpage des Nutzers „ausgestellt“ – so stand es jedenfalls in der Service-Beschreibung von uboot.com im Jahr 2001. Ein Film kostete 29,90 DM oder 15,29 Euro, die Währung wurde gerade umgestellt. Die auf den Profilseiten ausgestellten Bilder hatten zwei Funktionen: Einerseits sollte man damit etwas über sich selbst verraten – wodurch manche vorher gut inszenierte Fiktionen bezüglich des Aussehens und Milieus immer schwerer aufrecht zu erhalten waren, und auch insgesamt immer uninteressanter wurden – zumindest wenn man glaubwürdig erscheinen wollte. Dabei entstanden übrigens auch erste Selbstporträts, die formal an heutige Selfies erinnern, aufgenommen mit analogen Kameras, die oft auch nur Teile des Gesichts aufnahmen, unscharf oder schief geraten waren, weil sie aufgrund der hohen Preise ihrer Digitalisierung auf uboot.com nicht unendlich oft wiederholbar waren. Insofern trugen Bilder einerseits zu ersten Verknüpfungen bürgerlicher Identitäten und der ehedem parallelen Online-Identitäten bei, indem sie plötzlich auch als Beweis für die Glaubwürdigkeit eines Online-Nutzers eingesetzt wurden. Stimmt es, dass sich hinter dem Nickname „SuperStern89“ eine schlanke, 1.68m große Brünette verbirgt? Schnell ließen sich damit hinter Nickpages ohne Bildern dubiose und zwielichtige Gestalten vermuten. Und es entstand eine Notwendigkeit zur Bebilderung. Die andere Funktion der Bilder in frühen Chat-Rooms bestand darin, sich mit ihnen als kreativ oder witzig zu erweisen. Viele waren im Habitus künstlerisch ambitioniert oder stellten einen Bildgag dar, optische Täuschungen oder Ähnliches waren gang und gebe. Für derartige Motivationen sorgten einige Jahre später die sogenannten „Toplisten“, in denen die besten Bilder von uboot.com auf deren Startseite ausgestellt wurden. Bevor Bilder in personalisierten Seiten in Chat-Foren oder auf Websites integriert wurden, gab es erst dann eine Begegnung der analogen und digitalen Persönlichkeit, wenn tatsächlich ein Treffen mit einer unbekannten Person aus dem Netz anstand. Natürlich musste sich diese plötzliche Konfrontation als eine Irritation darstellen. Ich denke dabei an einen Film wie „E-Mail für Dich“, von 1998, in dem sich zwei Unbekannte in einem Chat-Room kennenlernen und über einen langen Zeitraum E-Mail-Kontakt haben. Die Entscheidung für ein Treffen fällt den Protagonisten sichtlich schwer. Denn sie sind sich nicht sicher, ob die online gemachten Angaben zu ihrer Person auch dem tatsächlichen Charakter gerecht werden. Hat man sich beschönigt oder gar verfremdet? Und auch als es endlich zu einem Treffen kommt, steht im Mittelpunkt immer die Frage, ob die digitale Inszenierung sich mit der „echten“, analogen, deckt. Auf uboot.com folgten „Myspace“, „SchuelerVZ“, „StudiVZ“, „Facebook“, „Twitter“, „Instagram“, „Tumblr“, „Snapchat“ – um meine eigene Social-Media-Sozialisation zu referieren – und im Social Web wurde es immer schwieriger, anonym zu bleiben und die Parallelität zwischen bürgerlicher Identität und dem persönlichen Profil im Netz zu wahren. SchuelerVZ war als digitales Freundschaftsbuch konzipiert. Man musste Hobbys und Geschmäcker angeben und sich selbst beschreiben. Die online geschaffenen Freundschaften zwischen den Nutzern reproduzierten oftmals die tatsächlichen innerhalb der Schule. Auf SchuelerVZ sah man sich gegenseitig bei den ersten Versuchen der Selbstinszenierung zu. Wie auch auf der zugewiesenen Seite des analogen Freundschaftsbuches suchte man für sein Profilbild anfänglich ein Porträt aus. Für den Übertritt der bürgerlichen Identität in die Charaktere, die man im Internet darstellte, war also nicht zuletzt die Möglichkeit verantwortlich, Bilder in das persönliche Profil einzubetten. Und diese Entwicklung wurde besonders vom Selfie forciert – einem Bild als Beweis.
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