Recycelte Fotos? Eine kleine Geschichte der Fototheorie in Bildern
- annekathrin kohout
- 3. Okt. 2015
- 6 Min. Lesezeit
Gestanzte Rahmen, leichte Verfärbungen und Menschen, die historisch anmuten. Gelegentlich sieht man sie in alten Magazinen und Fotoalben, die auf Flohmärkten oder in Trödelgeschäften und Antiquariaten erstanden werden können: alte Fotografien. Mittlerweile gibt es natürlich auch im Internet zahlreiche Blogs und Archive mit alten Bildern. Schließlich erzählen die Fotos nicht nur fiktive Geschichten, sondern der Referent ist an ihnen haften geblieben - das behauptete Roland Barthes in "Die helle Kammer“ von 1980. Solche Formulierungen der Fototheorie bleiben auch an aktuellen Texten haften, egal ob sie zu den besprochenen Bildern passen oder nicht. Der beklagenswerteste Aspekt der Fotografie sei es, so Susan Sontag, dass sich an ihr zeigt, dass die alte Welt nicht erneuert werden kann. Doch diese Abgeschlossenheit der Pole alt/neu ist eine sehr moderne Perspektive und nicht mehr aktuell. Das wird vor allem an den zahlreichen Recycling-Techniken unserer Zeit deutlich, die dem Alten neue Bedeutungen verleihen, ohne das eigens zu intendieren. Ohne eine ernst gemeinte Motivation, aber mit genügend ernst gemeinter Ausführung. Während Künstler, die der Moderne nachhängen, versuchen, die Bilder des Internets in eine analoge Welt zu retten, machen sich alle Anderen einen Spaß mit den analogen Fotos vergangener Zeiten, die gerade im Internet besser denn je zur Geltung kommen. Sie werden gefaltet, bestickt, übermalt oder auch einfach neu betitelt. Sie sind ziemlich gut gemacht und ziemlich bescheiden motiviert. Und vielleicht ist es nur ein Zufall, vielleicht aber auch ironisch-distanziertes Kalkül: dass sich in ihnen häufig fototheoretische Diskurse abbilden. Das ist überraschend, denn hier leiten nicht, wie so oft, Bilder zu Theorien an, sondern die Formulierungen inspirieren zu Umgangsweisen mit Fotografien. Eine „aktive Qualität“, die Horst Bredekamp den Bildern einverleibte, darf hier die Theorie für sich beanspruchen. Es folgt eine Auswahl. 1844 veröffentlicht William Henry Fox Talbot seine Schrift „The Pencil of Nature“. In der Fotografie, so seine These, bilde sich die Natur selbst ab. Und da die Natur nicht nur aus der physischen, sichtbaren Umwelt besteht, sondern auch aus Unsichtbarem, assoziierte man in den frühen Auseinandersetzungen mit der Fotografie immer wieder eine Materialisierung des Geistigen. Talbot stellte bereits fest, dass sich das vergänglichste aller Dinge, der Schatten, in ein dauerhaftes Bild verwandeln ließe, in etwas Materielles. Paul Nadar sprach von der Fotografie als einer „Materialisation des körperlosen Phantoms“, und zuletzt nennt Susan Sonntag die Fotografie „papierne Phantome“. Praktisch drückte sich dies in der sogenannten Geisterfotografie aus, die um 1900 ein beliebtes Mittel war, das Übernatürliche nachzuweisen. Ihr Hauptwerk war „Materialisierungsphänomene“ von Dr. Albert Freiherr von Schrenck-Notzing, der als praktischer Arzt in München arbeitete. Für Siegfried Kracauer ist die Fotografie an sich ein Gespenst, in seinem Essay „Die Photographie“ von 1927 führt Kracauer die kostümierte Puppe, das Mannequin, die Leiche und das Gespenst als Leitbild der Fotografie vor, um für sie einen Bereich zu beanspruchen, der sowohl dem Lebensechten, als auch dem Leblosen entnommen ist. 1859 schreibt Charles Baudelaire in „Der Salon“: „Die Natur ist häßlich, und ich ziehe die Ungeheuer meiner Phantasie den vorhandenen Trivialitäten vor.“ Das ist eine frühe Kritik an der Fotografie als Kunst und dem Kopieren der Natur im Allgemeinen. Die „ganze Natur“ hat kein Gesicht, keine Gestalt. Daher kann auch nicht die Fotografie, sondern nur die Kunst Wesentliches ausdrücken. Im Gegensatz zur Kunst, ist es der Fotografie nicht möglich, Fantasie, Empfindungen oder Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen. Selbst dann nicht, wenn sie ein Gesicht zeigt. In diesem Zuge bildet sich auch das klassische Erklärungsmodell abstrakter Kunst heraus, das Wolfgang Kemp wie folgt zusammenfasst: „Die Kapazität der Fotografie ist und bleibt die Abbildung der Realität, während die Kunst sich der Erschließung der abstrakten Bildwelten zuwendet.“ 1893 stellt Charles Sanders Peirce in „Die Kunst des Räsonierens“ die Fotografie als indexikalisches Zeichen heraus. Wie der Wetterhahn die Windrichtung indiziert, verweist das Foto physisch auf die abgebildete Situation. In dieser Tradition steht auch Roland Barthes, der das „Es-ist-so-gewesen“ als unmittelbare Einschreibung der Wirklichkeit zum Wesen der Fotografie erklärt. Doch darf dies nicht als Ausdruck eines ungebrochenen Realismus verstanden werden, wenngleich „der Referent immer da zu sein scheint“. Vielmehr kennzeichnet diese Formulierung ein Gefühl, das den Glauben an den Wahrheitscharakter erzeugt. In „Die helle Kammer“ von 1980 wird jedoch neben dem „studium“, das als Resultat dieses Glaubens gelten darf und als Zeugnis eines vergangenen Geschehens zu verstehen ist, das „punctum“ als wesentlicher Charakter der Fotografie vorgestellt. Das „punctum“ ist ein blinder Fleck. Es ist der fremde Blick, den der Betrachter nicht ausfüllen kann. Doch im Grunde gibt es keine eindeutige Definition. Das punctum ist auch ein „Einstich“, der beim Betrachten einer Fotografie widerfährt. Denn „immer wird hier die Zeit zermalmt“, die Lebendigkeit der Abbildung ist zugleich in seiner Starre der Prophet des Todes. 1936 schreibt Laszlo Moholy-Nagy in „fotografie: die objektive sehform unserer zeit“: „die fotografie zeigt uns ein gesteigertes bzw. ein mehr-sehen.“ Er zielt damit vor allem auf die technischen Möglichkeiten: Panorama-Kamera, Röntgen-Fotografie, Mikrofotografie - die Fotografie sieht immer mehr als das menschliche Auge, da sie simultan sieht. Das bedeutet zugleich: Realität ist nicht erfahrbar, kann aber mit technischen Hilfsmitteln erfahrbar gemacht werden. Mehr als 50 Jahre später ist die künstliche Herstellung von Realitäten Ausdruck dafür, dass immer noch etwas dahinter liegt, Realität, wenn sie denn existiert, nur ein Versteckspiel sein kann. Doch „die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität“, dessen ist sich Jean Baudrillard kurz vor der Jahrtausendwende 1998 bewusst. Und plötzlich - in der Nachbarschaft zum Film und computergenerierten Bildern - „ist das fotografische Bild das reinste, weil es weder Zeit, noch Bewegung simuliert und sich an den strengsten Irrealismus hält.“ 1977 publiziert Susan Sontag „On Photography“. Es ist eine Kritik an dem Medium Fotografie, von dem sie selbst fasziniert ist. Denn durch die inflationäre Verbreitung der Photographie im 20. Jahrhundert, haben die Bilder von der Realität Besitz ergriffen: „unsere Epoche zieht das Bild dem Ding vor, die Kopie dem Original, die Darstellung der Realität“ referiert Sontag Ludwig Feuerbach. Die Fotografie hat eine „Ersatzwelt“ erschaffen - die sich zugleich der Lebenswelt angleicht. Sontag vergleicht diesen Vorgang mit der Logik des Konsums: „Indem wir Bilder machen und sie konsumieren, provozieren wir in uns das Bedürfnis nach mehr und mehr Bildern.“ Es ist eine frühe Kritik der später auch begrifflich gefassten „Bilderflut“ und zugleich der Versuch einer Vorbeugung. Denn die Fotografien sind „Mittel, die überaus geeignet sind, den Spieß umzudrehen gegenüber der Realität“ - dessen muss man sich nur bewusst sein. 1983 führt Vilém Flusser den Begriff des Fotouniversums ein. Die „Ersatzwelt“ von Sontag ist hier Realität. Im Fotouniversum ist das Neue, die Veränderung, zur Gewohnheit geworden. „Ein redundantes Foto verdrängt ein anderes redundantes Foto“ - Flusser zeichnet das Bild eines endlos kreisenden Strudels, in den auch alle neuen Informationen einfließen und ewig zirkulieren. Und auch die „traditionellen Bilder fließen in sie ein und werden ewig reproduzierbar. <…> So saugen die technischen Bilder alle Geschichten in sich auf und bilden ein ewig sich drehendes Gedächtnis der Gesellschaft.“ Ganz nah ist Flusser an aktuellen Bildblogs wie Tumblr. 1994 schlägt William J. Mitchell in „The Reconfigured Eye“ eine Unterscheidung zwischen analoger und digitaler Bildproduktion vor. Während die analoge Technik Fotografien hervorbrächte, produziert die digitale „Computerbilder“. Auch Peter Lunenfeld charakterisiert die digitale Fotografie als Computergrafik, die insgesamt einen Bedeutungswandel erfährt und zu einer Unterordnung des Fotos unter die Grafik führt. Immer wieder wurde dies anhand der Pixel exemplifiziert, die frühen digitalen Fotografien zu eigen waren. Lunenfeld beklagt: „Dadurch wird die Fotografie zu einer unter vielen Repräsentationsformen.“ Doch aus heutiger Sicht ist das kein Defizit, sondern dient der Produktion von Möglichkeiten, die nicht mehr unter dem Druck stehen, Wirklichkeiten werden zu müssen. Die theoretische Auseinandersetzung mit der Fotografie ist immer wieder Anlass gewesen, die Moderne zu beschreiben. Neue Wahrnehmungsweisen und Techniken der Betrachtung sind durch das fotografische Bild entstanden, denn Fotografie schließt immer auch eine Reflexion über das Sehen und das Gesehene mit ein. Die Entstehung der modernen Kunst wird aus dem Wechselverhältnis mit dem damals neuen technischen Verfahren hergeleitet. Der indexikalische Charakter der Fotografie ließ Authentizität unter Beweis stellen und ermöglichte zugleich ihre Inszenierung. Indem sie sich als medienpolitische Waffe einsetzten ließ, stellte die Fotografie die Gesellschaft unter neue historische wie (sozial-)politische Bedingungen. Und nicht zuletzt unsere Vorstellung darüber, was Realität ist und wie diese medial vermittelt wird, hat sich in fototheoretischen Schriften maßgeblich ausgedrückt. Allen voran in jenen, die den Übergang und Unterschied zur digitalen Fotografie beschrieben haben. In seiner Habilitationsschrift „Der tote Blick“ hat Gerhard Plumpe die semantischen Oppositionen zusammengefasst, die die Fotografie in Relation zur Kunst im 19. Jahrhundert diskursiviert haben: Mensch/Maschine, Schöpfung/Kopie, Leben/Tod, Aktivität/Passivität, Wesen/Erscheinung, Tiefe/Oberfläche, Ganzheit/Fragment, Notwendigkeit/Kontingenz, Wahrheit/Lüge, Reinheit/Unreinheit, Idealität/Materialität. Diese Oppositionspaare waren jedoch nicht nur für die Fotografie, sondern für die Moderne insgesamt maßgebend. Und die haben wir längst hinter uns gelassen, wenngleich ihre Paradigmen - trotz des Wissens darüber, dass Moderne wie Postmoderne nur heuristische Etiketten sind, denen man nicht mehr aufsitzt - noch immer nachwirken. Die alten Fotos sind Fossilien der Moderne, des Glaubens an ein Leben nach dem Tod und an die Wahrheit als Fragment. Sie sind Fossilien einer sehr kurzen und sehr außergewöhnlichen Zeit. Und mit ihnen kann man es scheinbar doch: die Welt erneuern. Literatur: William Henry Fox Talbot: Der Zeichenstift der Natur, 1844 Charles Baudelaire: Der Salon, 1859 Charles Sanders Peirce: Die Kunst des Räsonierens, 1893 Dr. Albert Freiherr von Schrenck-Notzing: Materialisierungsphänomene, 1920 Siegfried Kracauer: Die Fotografie, 1927 Laszlo Moholy-Nagy: fotografie: die objektive sehfirm unserer zeit, 1936 Susan Sontag: On Photography, 1977 Roland Barthes: Die helle Kammer, 1980 Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, 1983 Gerhard Plumpe: Der tote Blick, 1990 William J. Mitchell: The Reconfigured Eye, 1994 Jean Baudrillard: Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität, 1998 Peter Lunenfeld: Digitale Fotografie. Das dubitative Bild, 2000 Wolfgang Kemp (Hrsg.): Theorie der Fotografie, Band I-IV, 2006 Peter Geimer: Theorien der Fotografie zur Einführung, 2009 Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, 2010 Bernd Steiger (Hrsg.): Texte zur Theorie der Fotografie, 2010
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