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Selfie-Biografien | YouTube-Vormittage statt Dia-Abende

„PEINLICHE FOTOS | Meine PUBERTÄT“ oder „Meine peinlichen JUGENDFOTOS“ heißen derzeit beliebte Clips, bei denen YouTuber/innen wie Bibi und Co. Fotos aus ihrer Jugend besprechen.  An ihnen zeigt sich besonders gut, wie wenig ein Selfie mit Narzissmus, wie viel es hingegen mit Kommunikation zu tun hat.Der YouTube Kanal „BibisBeautyPalace“ hat derzeit 2.299.975 Abonnenten. Jeden Donnerstag und Sonntag werden dort neue Clips veröffentlicht. Mit der Begrüßung „Hallo meine Lieben“ heißt das freundliche Gesicht mit den rosa Lippen seine Zuschauer willkommen. Bibi ist der Star unter den Beauty-Blogger/innen und für viele Formate, die mittlerweile gängig sind, Impulsgeber gewesen. Solche Formate sind neben Schmink- und Frisier-Tutorials beispielsweise unter der Kategorie „Jungs und Mädels“ (etwa „Das turnt Jungs bei Mädels ab“), „Comedy“ (etwa „Mein Freund schminkt mich“), „10 Arten…“ (etwa „10 Arten ein Date zu versauen“) oder „Challenges“ (etwa „Extreme Smoothie Challenge“) gefasst.

Bildschirmfoto 2015-08-23 um 09.06.08

Im Januar diesen Jahres hat Bibi einen Clip mit dem Titel „Meine PEINLICHSTEN TEENIE - FOTOS“ veröffentlicht, woraufhin es ihr zahlreiche Blogger/innen gleich taten. Für diese Clips werden vermeintlich peinliche Fotos vorbereitet, die dann vor der Kamera besprochen werden. Während in einem freigehaltenen Bereich des Bildes die entsprechenden Kinder und Jugendfotos eingeblendet werden, schaut sich der/die YouTuber/in die Fotos parallel dazu auf einem Tablet oder Smartphone an: „Damit wir uns gemeinsam kaputt lachen können.“ Dabei entstehen Diptychen, die das Vergangene und Gegenwärtige nebeneinander stellen. Ein bisschen erinnert das ganze an Diapräsentationen längst vergangener Tage. Im abgedunkelten Zimmer wurde von den Geschichten hinter den Bildern berichtet: von Reisen oder Feierlichkeiten. Doch in Bibis Zimmer ist es nicht dunkel, sondern alles strahlt: die gut ausgeleuchtete Haut der Beauty-Bloggerin, das weiße Tablet auf ihrem Schoß, die helle Wand im Hintergrund. Oft werden Bilder gezeigt, die sich noch nie im Dunkeln eines Schuhkartons oder unter dem Deckel des Fotoalbums befunden habe, die immer strahlten, ob auf dem Display früher Digitalkameras, dem Smartphone oder einem Computer. Bilder, die immer digital geblieben sind, oder zumindest nur noch digital auffindbar. In nur wenigen Jahren haben die Digital Natives so große technische Entwicklungen miterlebt, dass sie sich schon heute als historische Figuren verstehen dürften. „Ich dachte, ich hätt’s gelöscht!“ ruft Bibi empört ihrem Tablet entgegen, das Bild wird nun auch für die Zuschauer eingeblendet. Das ist natürlich rhetorisch gemeint, macht aber dennoch deutlich, um welche Bilder es sich hierbei handelt: Bilder, die nicht der Erinnerung dienen. Bilder, die auf nichts verweisen. Bilder, die nichts repräsentieren. Bilder, die auch hätten gelöscht werden können. Bilder, die einst versendet wurden, danach aber in Vergessenheit geraten sind. Die meisten von ihnen sind Selfies: ein irres Spiegelblitz-Selfie, ein steinzeitliches Mobiltelefon, frühe Gesichtsverzerrungen. Die Bilder haben Farbstiche und die Perspektiven sind schwindelerregend. Dennoch: „Jetzt haben meine alten peinlichen Selfies wenigstens einen Sinn, haha“ freut sich Bibi. Als Zuschauer erschaudert man, im Angesicht der gerade einmal wenige Jahre alten Bilder, die zum Teil historischer anmuten als ein Henry Cartier-Bresson. Überhaupt lassen sich die Bilder - das wird plötzlich in der medialen Verarbeitung durch das YouTube-Video deutlich - nur schwer in eine Beziehung zum Fotografischen stellen. Sondern eher zu steinzeitlichen Höhlenmalereien. Wolfgang Ullrich hat bereits festgestellt, das Selfies nicht vergleichbar sind mit Selbstportraits, sondern mit Emoticons, deren Kanon wiederum als moderne und vor allem globale Bildsprache gelten kann (Vgl. art-Magazin 09/2015). Das wird auch in den YouTube-Clips deutlich, wenn Bibi und Co. beim Anblick der Selfies berichten, welche Profilbilder in den frühen 2000er Jahren up to date gewesen sind und mit welchen Plattformen man damals vernetzt war: knuddels.de; uboot.com und schuelervz.net. Sie versuchen damit einen Kontext zu rekonstruieren, der im Bild nicht sichtbar und die Ursache dafür ist, dass sich die Blogger/innen auch nicht mit den Bildern identifizieren können. Weshalb ihnen auch keines der Fotos ersthaft peinlich ist. Das „Es-ist-so-gewesen“ von Roland Barthes verlegt sich auf den Kontext, wohnt den Fotografie selbst jedoch nicht mehr inne. Daher versuchen die Youtuber/innen auch nicht die Lücke zwischen der damaligen und jetzigen Existenz zu schließen. Sondern sie erzählen von den Bereichen, in denen die Bilder wirkten, weil vom Fotos selbst höchstens Rückschlüsse auf technikgeschichtliche Momente gezogen werden können. Den Selfies wird immer noch vorgeworfen, sie seien einzig Ausdruck von Narzissmus. Damit liegt man jedoch auch dann falsch, wenn man den Narziss-Mythos von Ovid richtig versteht. Nicht die Selbstliebe hat Narziss um sein Leben gebracht, denn er wusste gar nicht, wie ein Spiegel funktioniert. Narziss erblickte im Spiegelbild der Quelle deshalb nicht sich selbst, sondern einen anderen, der ihm unerreichbar bleiben sollte. An einer nicht erwiderten Zuneigung ist Narziss zu Grunde gegangen, die seiner Medienunkenntnis geschuldet war.

Bildschirmfoto 2015-08-23 um 09.05.45

In den YouTube-Videos ist das Verständnis darüber, wie unsere gegenwärtigen Medien funktionieren, ausgeprägter, als oft vermutet wird. Die Blogger/innen sind sich offensichtlich sehr bewusst darüber, in welchen Kontexten die verschiedenen Bilder wirksam waren und welche Funktionen sie dabei erfüllt haben. Genauso wie der aktuelle YouTube-Clip, der zum Mitmachen auffordert: „Wie sieht's bei euch aus? Habt ihr auch peinliche Selfies und Co. in den Tiefen eurer Festplatte vergraben?“

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