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Balthus

Für viele ist es das wichtigste Werk von Balthus: Ich muss gestehen, es ist selten und wohltuend, dass der in diesem Fall auch ganz meinem eigenen Empfinden entspricht. Das 1952/53 entstandene Gemälde ist wirklich ein Meisterwerk. Ich finde sogar, dass Balthus besonders wegen dieses Bildes als Wes Anderson der Malerei zu bezeichnen ist – auch wenn er weniger symmetrische Kompositionen anlegt und ganz andere, aber ebenso zeittypische Farben verwendet. Während Wes Anderson Filme macht, die vor allem auf Bildern basieren, macht Balthus Bilder, die so szenisch sind wie sonst nur im Film.

Das Bild steht im Zentrum einer Balthus-Retrospektive, die gerade in der Fondation Beyeler stattfindet. Seit mehreren Jahren befindet sich das Gemälde als Dauerleihgabe aus der Sammlung von Claude Hersaint in dem Basler Museum. Es umfasst acht Personen, deren Wege sich scheinbar zufällig kreuzen – wie in einem Episodenfilm, zum Beispiel „Four Rooms“ von 1995, in dem ein Hotel zum Anlass wird, die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Leben und Lebenssituationen von Menschen zu zeigen,oder in „Paris je t’aime“ von 2006, wo die Stadt verschiedene Personen, ihre Entscheidungen und Gedanken, parallelisiert. Bei Balthus ist es eine Straßenecke, auf der die unterschiedlichen Protagonisten zusammenkommen: eine ältere Dame mit Stock, ein Mann mit Hündchen und Baguette, ein auf dem Gehsteig kauernder älterer Herr, ein Kleinkind, das mit einer Puppe spielt, ein junges Mädchen, das ein aus dem Fenster schauendes Baby begrüßt, sowie ein Mann, der im Türrahmen lehnt, und eine Frau, die auf der Straße steht, ihre Augen geschlossen hat und eine Denkerpose einnimmt. Während alle in Bewegung begriffen sind, halten die beiden letztgenannten inne – und damit auch die Zeit der anderen an. Damit weisen sie uns, die Betrachter, auf die Künstlichkeit der Situation hin. Diese bestätigt sich zudem, wenn man die Summe der Protagonisten nüchtern betrachtet: Alle Lebensalter sind in dem – nun muss man wohl sagen – Symbolbildvertreten. Oder mit den Worten Wim Wenders’ im Katalog zur Ausstellung: „Es stellt <...> so viel mehr dar als nur eine Straßenszene; irgendwie es das menschliche Dasein in einem rätselhaft eingefrorenen Augenblick der Ewigkeit.“ Das Bild ist sehr groß und hat, wenn man davorsteht, den Effekt, dass man sich selbst als Teil der Szene begreift. Diese ist aber so künstlich und theaterhaft, wie man es – ich zumindest – auch manchmal im Alltag auf der Straße empfindet, wenn plötzlich alles wirkt, als sei es inszeniert, nur eine große Truman-Show. Wenn man die Perspektive des allwissenden Erzählers einnimmt und sich selbst unter den anderen sieht, als eine von vielen. Das eigene individuelle, komplexe, vielschichtige Leben wird neben den anderen ebenso individuellen, komplexen, vielschichtigen Leben auf einmal schematisch – was traurig und besonders schön zugleich ist. Traurig, weil man feststellt muss, nicht die einzige auf der Welt zu sein, um die sich alles dreht. Schön, weil das Gefühl die Erlaubnis erteilt, sich selbst weniger ernst zu nehmen. Auf diese Weise betrachte ich Ich biege in die Straße ein und ganz plötzlich sehe ich die Welt als Bühne vor mir. Der Mann im Türrahmen nimmt mich wahr. Was ist das für ein Mann? Es sieht so aus, als stehe er immer dort und betrachte das Geschehen. Vielleicht ist er aber auch zum Luftholen aus dem Haus getreten, weil er sich mit seiner Frau, Freundin oder gar Geliebten gestritten hat. Wahrscheinlicher ist, dass er sich die Zeit vertreibt. Vielleicht arbeitet er in der Küche eines kleinen Restaurants und pausiert für einen kurzen Moment, schüttelt in aller Ruhe das Tuch aus, das er in seinen Händen hält. Vielleicht denkt er an die Nahrungsmittelknappheit nicht mal ein Jahrzehnt zuvor, während des zweiten Weltkrieges. Und wie viel besser es ihnen, den Franzosen, jetzt wieder geht. Und der Herr gegenüber auf dem Gehsteig? Wo kommt er her, was für ein Leben führt er? Was lässt ihn auf dem Boden kauern und ins Leere starren? Mit welcher Eleganz hingegen der schlanke adrette jüngere Mann mit seinem noch schlankeren Baguette stolziert: so aufrecht und zielstrebig. Nichts wird von ihm außer acht gelassen, selbst sein Hintern ist angespannt. Die alte Lady hört man wiederum vor sich hermurmeln, bestimmt geht sie zum Einkaufen. So könnte man immer weiter fantasieren. Das Bild erinnert mich an eine Performance von Ins Wuttke – wobei Performance als Kategorie eigentlich viel zu kurz greift –, die ebenfalls die Frage aufgeworfen hatte, wann genau der Raum des Theaters beginnt. Für diese Arbeit mit dem Titel „Strategien des Zuschauens“ (2013) hatte Wuttke einen langen Straßenabschnitt in Karlsruhe (später auch in Giessen und Pforzheim) gesperrt, um dort zur Beobachtung eingeladene Akteurinnen und Akteure flanieren zu lassen. Alles, was in der Straße passierte, war also arrangiert, allerdings auf eine improvisierte Art und Weise, ohne Drehbuch. Allein das Beobachten der anderen und umgekehrt das Wissen darum, von den anderen beobachtet zu werden, hat aus dem natürlichen selbstverständlichen Spazieren und Schauen eine Inszenierung gemacht. Deshalb ist es auch so wichtig, dass der Mann im Türrahmen auf dem Balthus-Gemälde zum Betrachter schaut und dass die Frau ihm zugewandt ist: Nur dadurch führt das Gemälde uns die Inszeniertheit der vermeintlich zufälligen Alltagsszene in einer kleinen Pariser Straße vor Augen. Weil man sich gegenseitig observiert und in dem Moment, wo der Blick auf einen selbst fällt, anfängt, sich so zu verhalten, wie man glaubt, dass man sich ‚normalerweise‘, ‚in echt‘, verhält. Beide Arbeiten verleiten zum Changieren zwischen Realität und Inszeniertheit und würdigen damit das Absurde, das manchmal in Alltagssituation aufscheint. Beide Arbeiten versetzen den Zuschauer in die Rolle des Flaneurs, des Genießers der Straße (besonders der Passage), der ganz langsam geht und schaut – auf die Architektur, die Läden, die Menschen –, während alles und jeder um ihn herum in Eile ist. Auffällig an ist, dass keiner der Protagonisten etwas mit dem anderen zu tun hat. Jeder ist für sich und mit sich beschäftigt, hat seine eigenen Motive, Ziele, Gedanken. Eine angenehme, selbstverständliche Anonymität beherrscht das Bild, die lange und vor allem von Großstadt-Kritikern als asozial empfunden und für den gesellschaftlichen Verfall verantwortlich gemacht wurde. Oder mit anderen Worten – und zwar jenen des Geheimagenten, die auch Walter Benjamin 1938 in einem Text über den Flaneur zitierte: „Es ist fast unmöglich, gute Lebensart in einer dicht massierten Bevölkerung aufrecht zu erhalten, wo jeder einzelne allen anderen sozusagen unbekannt ist und daher vor niemanden zu erröten braucht.“ Nun, heute gerät genau das Gegenteil unter Kritik (wenn auch dieselbe Folge, Vereinzelung, benannt wird): Transparenz. Zu viele Daten würden preisgegeben, zu wenig Anonymität bewahrt. In welchem Verhältnis steht Anonymität zum Sozialsein? Benjamin deutet die Worte des zitierten Geheimagenten so: „ie Masse“ – und damit die durch sie bedingte Anonymität – „ist das Asyl, das den Asozialen vor seinen Verfolgern schützt.“ Das sei sogar der „Ursprung der Detektivgeschichte“. Der Asoziale ist hier gleichgesetzt mit dem Kriminellen – ein Kurzschluss, der im Übrigen immer noch gültig ist, schließlich werden auch heute Überwachungstechnologien meistens damit begründet, vor Kriminalität zu schützen. Zurück zu den Figuren von Balthus (und das gilt nicht nur für die ): Sie sind selten sozial, sondern immer kontemplativ und mit sich selbst beschäftigt. Sie träumen oder langweilen sich, obwohl sie zu zweit oder zu dritt oder zu viert sind. Es sind höchst psychologisierte Figuren, von denen wir nicht wissen, was sie sinnieren, aber wir werden dazu angeregt, darüber nachzudenken. Dabei kommt man aber zu keinem Ergebnis. Die Figuren verschließen sich vor den Betrachtern, werfen Rätsel auf, die nicht gelöst werden können. Es könnte sein, dass den Bildern deshalb so sehr misstraut wird. Das Misstrauen entsteht nicht nur, weil man mittlerweile gemeinhin vermutet, es handle sich im Fall von Balthus um die Werke eines Pädophilen, sondern auch, weil die Protagonisten nichts von sich preisgeben. An eine derartige Verschlossenheit sind wir heute nicht mehr gewöhnt. Wenn wir durchs Netz flanieren, bekommen wir so viele Informationen, sogar Details, dass nur noch Lücken zu einer Geschichte über eine Person gefüllt werden müssen. Nichts aber muss, wie in der Betrachtung der Werke von Balthus, eigens erfunden werden. P.S. „Eine Ausstellung zu Balthus stellt für ein Museum eine besondere Herausforderung dar“, schreiben die Kuratoren der Ausstellung auf der Website der Fondation Beyeler undversuchen damit die Diskussion um das Gemälde fortzuführen. Ich wollte eigentlich gar nicht weiter auf Térèse und die Debatte um das Bildverbot eingehen. Trotzdem folge ich zumindest in einem kurzen Hinweis doch noch der Aufforderung von Sam Keller, Raphaël Bouvier und Michiko Kono. Es wurde schon sehr viel über über Zensur und die Freiheit der Kunst geschrieben und der Diskurs hat den üblichen Verlauf genommen. Daher sei nur hinzugefügt: Die Darstellung (sehr) junger Mädchen und Jungen, besonders die erwachende Sexualität, sind nicht einzelne Schandtaten pädophiler Männer oder Frauen, sondern haben Tradition. Ich halte es zum Beispiel für sehr wahrscheinlich, dass Balthus nicht nur von Lewis Carrolls Kinderbuch „Alice im Wunderland“ und dessen zweiten Teil „Alice hinter den Spiegeln“ inspiriert war, sondern auch von seinen Fotografien, für die die echte Alice, Alice Liddell, vielfach Modell gestanden hatte. Carroll verehrte das junge Mädchen, seine Muse, die er in sinnlichen bis anzüglichen Posen fotografierte, so sehr, dass er „Alice im Wunderland“ erfand – nur, um es ihr zum Geburtstag zu schenken. Natürlich ist nachvollziehbar, dass die Eltern des Mädchens ihm irgendwann den Umgang mit ihrer Tochter verwehrten. Das war insgesamt ein viel kontroverserer Fall, bis heute konnte nicht geklärt werden, warum Lewis Carroll, der eigentlich Charles Lutwidge Dodgson hieß, die Negative seiner Aktfotografien zerstört hat und von seinem Testamentsvollstrecker auch deren Abzüge vernichten ließ. Tatsächlich ähneln die noch erhaltenen Bilder denen von Balthus. Thérèse und Alice eint, wie selbstbewusst und im Leben stehend sie dargestellt wurden, zugleich aber auch träumend und fantasierend – eben in sich gekehrt, verschlossen, asozial. Genauso asozial wie Suzy Bishop und Sam Shakusk aus „Moonrise Kingdom“ von Wes Anderson (2012), um nochmal an den Vergleich zu erinnern. Die beiden Zwölfjährigen entfliehen dem Familienhaus und Pfadfinderlager, um sich zu trennen, und entdecken schließlich in einer abgelegenen Meeresbucht ihre Sexualität. Auch das könnte man – muss man aber nicht – als pädophile Phantasie eines mittelalten weißen Mannes deuten, und auch diesen Film würde ich nicht missen wollen. Was die Herren – ich hätte aber auch Damen nennen können, z.B. Annelies Strba oder Rineke Dijkstra – eint:Sie fassen die Atmosphäre eines Alters auf eine Art und Weise ins Bild, wie es vielleicht nur möglich ist, wenn man besonders stark davon affiziert ist.

Literatur: Walter Benjamin: Der Flaneur, in: Gerd Stein (Hg.): Dandy – Snob – Flaneur.Fischer: 1985. S. 129/130. Sam Keller, Raphaël Bouvier, Michiko Kono: BALTHUS DISCUSS – EINFÜHRUNG / INTRODUCTION, in: https://www.fondationbeyeler.ch/balthusdiscuss/balthusdiscuss-intro/ Wim Wenders: Eine geheime Passage in die Ewigkeit, in: Raphaël Bouvier (Hg.): Balthus. Fondation Beyeler: 2018. S. 149-151.

 
 
 

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